Schäden durch Medizinprodukte und Arzneimittel

Im Bereich der Arzneimittelhaftung und der Medizinproduktehaftung hat der Bundesgerichtshof (BGH) die Bedingungen für eine Prozessführung in den letzten Jahren Immer mehr zugunsten des Geschädigten erleichtert.

1. Produktfehler schon bei Zugehörigkeit zu fehlerhafter Produktserie

Eine ganze Vielzahl entsprechender Produkte betreffend, hat der BGH die mit Spannung erwartete Entscheidung des EuGH zum Fehlerbegriff nun in seine nationale Rechtsprechung übertragen, wonach schon das Risiko einer Fehlfunktion wegen Zugehörigkeit zu einer fehlerhaften Produktserie Schadensersatzansprüche auslöst.

Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Klägerin regressiert als gesetzliche Krankenversicherung Kosten für den Austausch zweier Herzschrittmacher gegen seitens des Herstellers kostenlos zur Verfügung gestellte Austauschgeräte. Hintergrund dessen waren „dringende Sicherheitsinformationen“ des Herstellers, wonach die hermetische Versiegelung der Geräte möglicherweise einem sukzessiven Verfall mit vorzeitigem Funktionsverlust unterläge. Mit bis zu 0,88 % lag das Fehlerrisiko bis zu 20-fach höher als das reguläre Fehlerrisiko.

Die ausgetauschten Geräte waren im Zuge der Operationen entsorgt worden, weshalb sie als Beweismaterial für den Prozess nicht mehr zur Verfügung standen. Soweit § 3 ProdHG einen Fehler dahingehend definiert, dass ein Produkt „nicht die Sicherheit bietet, die unter Berücksichtigung aller Umstände […] berechtigterweise erwartet werden kann“, kam eine Haftung mithin lediglich für den Fall in Betracht, dass bereits die Zugehörigkeit zu einer erhöht fehleranfälligen Serie aus einem fehlerfreien ein fehlerhaftes Produkt macht. Das haben EuGH und in der Folge auch BGH nun bejaht.

Der EuGH hat wie folgt entschieden:

Der EuGH verweist zur Auslegung der maßgeblichen Ril. 85/374 zunächst auf deren 6. Erwägungsgrund, wonach die Frage der berechtigten Sicherheitserwartung anhand der berechtigten Erwartungen der Allgemeinheit vorzunehmen sei (nicht der Ärzteschaft oder spezialisierter  Techniker). Bei den hier relevanten Herzschrittmachern bzw. Defibrillatoren seien die Anforderungen an ihre Sicherheit, die die Patienten zu erwarten berechtigt sind, in Anbetracht ihrer Funktion und der Situation besonderer Verletzlichkeit der diese Geräte nutzenden Patienten zudem aber auch besonders hoch. Außerdem bestehe der potenzielle Mangel an Sicherheit hier in der anormalen Potenzialität eines Personenschadens, der durch sie verursacht werden kann. Daher könnten im Fall der Feststellung eines potenziellen Fehlers solcher Produkte derselben Produktgruppe oder Produktionsserie alle Produkte dieser Gruppe oder Serie als fehlerhaft eingestuft werden, ohne dass ein Fehler des betreffenden Produkts nachgewiesen zu werden braucht.

Operationen, die zum Austausch solcher Geräte durchgeführt würden, erfüllten zudem auch den Tatbestand der Körperverletzung, da dieser Begriff im Hinblick auf die von der Richtlinie verfolgten Ziele des Schutzes der Sicherheit und Gesundheit der Verbraucher weit auszulegen sei. Entsprechend umfasse Schadensersatz alles, was erforderlich sei, um die Schadensfolgen zu beseitigen und das Sicherheitsniveau wiederherzustellen, das man zu erwarten berechtigt ist, einschließlich der Kosten im Zusammenhang mit dem Austausch des fehlerhaften Produkts einschließen.

EuGH 05.03.2015 – C-503/13

Der BGH hat wie folgt entschieden:

Der BGH ging in der Konsequenz von einem fehlerhaften Produkt aus, verwies die Sache jedoch gleichwohl zurück, weil bislang keine ausreichenden Feststellungen getroffen worden seien, ob die Empfehlung des Herstellers, „die Programmierung der ‚Magnetfunktion aktivieren‘ auf ‚AUS (OFF)‘ vorzunehmen“, dazu führe, dass die Magnetfunktion keinen therapeutischen Nutzen mehr habe, und ob eine solche Deaktivierung bereits geeignet sei, den Fehler zu beseitigen, oder ob dafür ein Austausch des Produkts erforderlich sei.

BGH 09.06.2015 – VI ZR 327/12

Fundstelle: ARBER-Info November/Dezember 2015

BSG bejaht Patientenanspruch auf Akteneinsicht

BSG bejaht den Anspruch des Patienten auf Akteneinsicht, aber nicht auf neues Gutachten

Der bei der beklagten AOK versicherte Kläger ließ sich durch das Zahnzentrum Ulm, dessen Rechtsträgerin die Beklagte ist, zahnärztlich behandeln. Aufgrund behaupteter Behandlungsfehler holte die Beklagte ein Gutachten des MDK ein, während sie dem Kläger Einsicht in seine Patientenakte beim Zahnzentrum verweigerte. Mit seiner Klage auf Einsichtnahme sowie Einholung eines weiteren Gutachtens hatte der Patient vor SG und LSG keinen Erfolg. Die Beklagte sei für den Anspruch auf Einsichtnahme nicht passiv legitimiert; sie habe nicht durch Verwaltungsakt über die geforderte Unterstützung entschieden. Dass der Kläger mit dem Ergebnis des MDK-Gutachtens nicht einverstanden sei, verpflichte die Beklagte nicht, ein weiteres Gutachten einzuholen.

Das BSG hielt einen offenbar unerfüllten Einsichtnahmeanspruch des Patienten nach § 630g BGB gegen die AOK für gegeben. Soweit er die Einholung eines weiteren zahnärztlichen Gutachtens durch die Beklagte begehrte, wies der Senat die Revision allerdings zurück. Seine hierauf gerichtete Klage sei mangels vorangegangenen Verwaltungsverfahrens unzulässig.

Bundessozialgericht, Urteil vom 08.09.2015 – B 1 KA 36/14 R

Fundstelle: newsletter 2015-10 der Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht des Deutschen Anwaltvereins

Pflegereform beschlossen

Die Pflegereform hat der Bundestag am 13.11.2015 mit dem Zweite Pflegestärkungsgesetz (PSG II) beschlossen. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff und das neue Begutachtungsverfahren gelten ab 01.01.2017. Die Selbstverwaltung in der Pflege hat damit mehr als ein Jahr Zeit, die Umstellung auf die fünf neuen Pflegegrade und die neuen Leistungsbeträge der Pflegeversicherung in der Praxis vorzubereiten. Im Übrigen treten die Verbesserungen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen bereits zum 01.01.2016 in Kraft. Eine Zustimmung des Bundesrates ist nicht erforderlich.

Fundstelle: newsletter 2015-11 der Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht des Deutschen Anwaltvereins

Hospiz- und Palliativgesetz verabschiedet

Am 05.11.2015 hat der Bundestag dem Hospiz- und Palliativgesetz zugestimmt. Damit wird die Palliativversorgung ausdrücklicher Bestandteil der Regelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Im vertragsärztlichen Bereich werden die Selbstverwaltungspartner zur Steigerung der Qualität der Palliativversorgung, zur Zusatzqualifikation der Haus- und Fachärzte sowie zur Förderung der Netzwerkarbeit zusätzlich vergütete Leistungen vereinbaren.

Die Palliativversorgung im Rahmen der häuslichen Krankenpflege wird gestärkt. Der G-BA erhält den Auftrag, in seiner Richtlinie über die Verordnung häuslicher Krankenpflege die Leistungen der Palliativpflege zu konkretisieren und für die Pflegedienste abrechenbar zu machen. Besonders in ländlichen Regionen soll der Ausbau der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) beschleunigt werden. Die finanzielle Ausstattung stationärer Kinder- und Erwachsenen-Hospize wird verbessert. Bei den Zuschüssen für ambulante Hospizdienste werden künftig neben den Personalkosten auch die Sachkosten berücksichtigt.

Die ambulante Hospizarbeit in Pflegeheimen soll stärker berücksichtigt werden. Auch Krankenhäuser können Hospizdienste künftig mit Sterbebegleitungen beauftragen. Die Sterbebegleitung wird ausdrücklicher Bestandteil des Versorgungsauftrages der sozialen Pflegeversicherung. Kooperationsverträge der Pflegeheime mit Haus- und Fachärzten sollen verpflichtend abgeschlossen werden. Ärztinnen und Ärzte, die sich daran beteiligen, erhalten eine zusätzliche Vergütung. Außerdem werden Pflegeheime zur Zusammenarbeit mit ambulanten Hospizdiensten verpflichtet.

Versicherte erhalten einen Anspruch auf individuelle Beratung und Hilfestellung durch die gesetzlichen Krankenkassen bei der Auswahl und Inanspruchnahme von Leistungen der Palliativ- und Hospizversorgung. Kliniken sollen ab 2017 individuelle Zusatzentgelte für multiprofessionelle Palliativdienste vereinbaren können; ab 2019 wird es auf entsprechender gesetzlicher Grundlage bundesweit einheitliche Zusatzentgelte hierfür geben. Die Krankenhäuser können dafür hauseigene Palliativ-Teams aufbauen oder mit externen Diensten kooperieren.

Zitat aus Fundstelle: newsletter 2015-11 der Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht des Deutschen Anwaltvereins

Ein Anästhesie-Pfleger ist wegen eigenmächtiger Einleitung einer Narkose kündbar

Die eigenmächtige Einleitung einer Narkose in Abwesenheit eines Facharztes für Anästhesie stellt für sich genommen einen Grund für die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Anästhesie-Pflegers dar.

Bei einer bewussten und damit vorsätzlichen Missachtung der Anweisung bzw. der gesicherten Handhabung, eine Einleitung der Narkose nur in Anwesenheit eines Facharztes vorzunehmen, handelt es sich um eine Vertragspflichtverletzung, die „an sich“ geeignet sein kann, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen.

Jedoch kann eine Abwägung zu Gunsten des Arbeitnehmers die Erforderlichkeit einer vorherigen Abmahnung ergeben. Im entschiedenen Fall wäre eine solche angesichts des beanstandungsfreien Verhaltens während des 24-jährigen Beschäftigungsverhältnisses erforderlich gewesen, befand das Gericht.

Beschluss des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 09.06.2015 zum Aktenzeichen 7 TaBV 29/15

Fundstelle: jurion-online

200.000 Euro Schmerzensgeld für Verlust beider Nieren

Für den Verlust beider Nieren hat das Oberlandesgericht Hamm einer jugendlichen Patientin ein Schmerzensgeld von 200.000,00 Euro zugesprochen. Die Patientin hat aufgrund eines groben Befunderhebungsfehlers ihrer Hausärztin beide Nieren verloren, wurde dialysepflichtig und musste sich 53 Folgeoperationen, darunter zwei erfolglosen Nierentransplantationen, unterziehen.
.

Hausärztin hat bei der Bluthochdruckpatientin keine weitere diagnostische Abklärung vorgenommen

In der Beck-Mitteilung wird hierzu wie folgt ausgeführt:

Die 1986 geborene Klägerin ließ sich über mehrere Jahre bis März 2002 durch die beklagte Hausärztin behandeln. Sie litt unter einer krankhaften Fettsucht und Nikotinmissbrauch. Im September 2001 stellte die Beklagte bei der Klägerin einen deutlich erhöhten Blutdruck fest und wies die Klägerin und ihre Mutter auf eine notwendige Blutdruckkontrolle hin. Nachdem die Beklagte im November 2001 erfahren hatte, dass die Klägerin, bei der wiederum erhöhte Blutdruckwerte vorlagen, aufgrund von Kreislaufproblemen viermal bewusstlos geworden war, stellte sie eine Überweisung zum Internisten und Kardiologen zur weiteren Diagnostik einer sekundären Hypertonie aus. Zudem bot sie erneut regelmäßige Blutdruckkontrollen an, die die Klägerin in den nächsten Wochen nicht wahrnahm.

Klägerin fordert Schadensersatz für Verlust beider Nieren

Die Blut- und Nierenwerte der Klägerin untersuchte die Beklagte während dieser Zeit nicht. Nach der Behandlung durch die Beklagte wurden bei der Klägerin beiderseitige Schrumpfnieren diagnostiziert. In den folgenden Jahren unterzog sich die Klägerin 53 Operationen, unter anderem zwei erfolglosen Nierentransplantationen. Sie wurde dialysepflichtig. Mit der Begründung, sie sei von der Beklagten unzureichend untersucht worden, so dass ihr Nierenleiden zu spät entdeckt worden sei, verlangte die Klägerin von der Beklagten Schadensersatz, unter anderem ein Schmerzensgeld von 200.000 Euro.

OLG: Hausärztin hätte Ursachen des Bluthochdrucks abklären müssen

Die Schadensersatzklage war erfolgreich. Das OLG hat der Klägerin 200.000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen. Die Beklagte hafte für Befunderhebungsfehler. Sie habe nicht genug unternommen, um die Ursache für den Bluthochdruck der Klägerin abzuklären. Bereits der im September 2001 gemessene Blutdruck sei ein krankhafter Befund gewesen, der durch weitere regelmäßige Blutdruckmessungen habe abgeklärt werden müssen. Soweit es zu keiner Rückmeldung der Patientin gekommen sei, habe der damals 15-jährigen Patientin und ihren Eltern die hohe Dringlichkeit der weiteren Abklärung verdeutlicht werden müssen. Der Beklagten sei zudem vorzuwerfen, dass sie nach der Vorstellung der Klägerin im November 2001 eine weiterführende Diagnostik nicht stärker vorangetrieben oder selbst durchgeführt habe. Mehrfache Bewusstlosigkeiten und wiederholt erhöhte Blutdruckwerte hätten – trotz der weiteren Risikofaktoren der Klägerin – im Hinblick auf eine sekundäre Hypertonie zwingend weiter abgeklärt werden müssen.

Keine Abklärung trotz mehrfacher Bewusstlosigkeiten: Grober Behandlungsfehler

Laut OLG hätte es dazu weiterer Blutdruckwerte bedurft. Bei dieser Situation habe die bloße Überweisung der Klägerin zum Kardiologen ohne zwischenzeitliche eigenständige Diagnostik nicht ausgereicht. Aus fachärztlicher Sicht eines Allgemeinmediziners sei sogar eine stationäre Abklärung erforderlich gewesen. Dieses habe wiederum der Klägerin und ihren Eltern verdeutlicht werden müssen. Dass die Beklagte bei der Situation im November 2001 diese elementar gebotenen diagnostischen Maßnahmen unterlassen habe, sei – abweichend von der Auffassung des Landgerichts – als grober Behandlungsfehler zu bewerten.

Beweislastumkehr zugunsten der Klägerin

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei – aufgrund der mit dem groben Behandlungsfehler verbundenen Beweislastumkehr – zugunsten der Klägerin davon auszugehen, dass ihre späteren Beeinträchtigungen der Nierenfunktion, insbesondere ihre Dialysepflicht, die zwei Nierentransplantationen mit insgesamt 53 Operationen auf die von der Beklagten zu vertretende zeitliche Verzögerung bei der Feststellung und Behandlung der Grunderkrankung zurückzuführen seien, so das OLG weiter. Bei einer früheren Diagnose der Nierenerkrankung der Klägerin habe eine – wenn auch geringe – Chance auf eine vollständige Heilung bestanden. Der komplikationsträchtige, lange Krankheitsverlauf mit der dauerhaften Dialysepflicht für die noch junge Klägerin rechtfertigte die Größenordnung des zugesprochenen Schmerzensgeldes.

Urteil OLG Hamm vom 03.07.2015 zum Aktenzeichen 26 U 104/14
Funbdstelle: BeckRS 2015, 13000

Blindengeld für Cereral

Anspruch auf Blindengeld haben nach Urteil des 9. Senats des Bundessozialgerichts vom 11.8.2015 zum Aktenzeichen B 9 BL 1/14 R auch schwerst Hirngeschädigte, die nicht sehen können.

Anders als bisher entschieden, ist hierfür nicht mehr erforderlich, dass ihre Beeinträchtigung des Sehvermögens noch deutlich stärker ausgeprägt ist als die Beeinträchtigung sonstiger Sinneswahrnehmungen wie zum Beispiel Hören oder Tasten (sog. spezifische Störung des Sehvermögens).

Der Entscheidung zum Blindengeld lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Der heute 10-jährige Kläger erlitt bei seiner Geburt (2005) wegen einer Minderversorgung mit Sauerstoff schwerste Hirnschäden, die unter anderem zu einer schweren mentalen Retardierung mit Intelligenzminderung geführt haben. Der Entwicklungsstand des Klägers entspricht nur dem eines ein- bis viermonatigen Säuglings. Seine kognitive Wahrnehmungsfähigkeit ist im Bereich aller Sinnesmodalitäten stark eingeschränkt. Unter anderem verfügt der Kläger lediglich über basale visuelle Fähigkeiten, die unterhalb der Blindheitsschwelle liegen. Der Kläger kann ‑ mit anderen Worten ‑ nicht sehen. Die Mutter des Klägers beantragte 2006 für ihren Sohn Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz. Der Freistaat Bayern lehnte den Antrag ab. Zwar liege beim Kläger eine schwerste Hirnschädigung vor, jedoch sei das Sehvermögen nicht wesentlich stärker beeinträchtigt als die übrigen Sinnesmodalitäten. Dies aber sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur sogenannten cerebralen Blindheit Voraussetzung für die Gewährung von Blindengeld. Das Landessozialgericht hat dies bestätigt.

Die Entscheidung des Gerichts:

Der 9. Senat des Bundessozialgerichts, der für den Nachweis einer schweren Störung des Sehvermögens bisher verlangt hatte, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen ist, als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten, hat seine Rechtsprechung aufgegeben und dem Kläger Blindengeld zugesprochen. Er sah sich hierzu einerseits aus „prozessualen“ Gründen veranlasst. Wie inzwischen zahlreiche Entscheidungen der Instanzgerichte, darunter diejenigen über den Anspruch des Klägers, zeigen, lässt sich gerade bei mehrfach schwerstbehinderten Kindern eine spezifische Störung des Sehvermögens medizinisch kaum verlässlich feststellen. Diesbezüglich hat sich das Kriterium der spezifischen Sehstörung als nicht praktikabel erwiesen; es führt zu einer Erhöhung des Risikos von Zufallsergebnissen.

Vor allem aber sieht der 9. Senat unter dem Aspekt der Gleichbehandlung behinderter Menschen vor dem Gesetz (Artikel 3 Absatz 1 und Absatz 3 des Grundgesetzes) materiell-rechtlich keine Rechtfertigung mehr für dieses zusätzliche Erfordernis. Der 9. Senat kann keinen hinreichenden sachlichen Grund dafür erkennen, dass zwar derjenige Blindengeld erhalten soll, der „nur“ blind ist, nicht aber derjenige, bei dem zusätzlich zu seiner Blindheit noch ein Verlust oder eine schwere Schädigung des Tastsinns oder sonstiger Sinnesorgane vorliegt, bei dem aber nicht von einer deutlich stärkeren Betroffenheit des Sehvermögens gegenüber der Betroffenheit sonstiger Sinnesorgane gesprochen werden kann.

Das in den Materialien des Bayerischen Landesgesetzgebers zum Ausdruck kommende Anliegen, dass Störungen aus dem seelisch/geistigen Bereich nicht zu einem Blindengeldanspruch führen sollen, kann die Ungleichbehandlung schwer cerebral geschädigter Behinderter nicht begründen. Auch in den Fällen, in denen neben dem fehlenden Sehvermögen weitere oder alle Sinnesorgane schwer geschädigt sind, ändert dies nichts daran, dass der Betroffene sowohl in tatsächlicher wie auch in rechtlicher Hinsicht blind ist.

Insbesondere stellt die Erwägung, dass derjenige, der wegen schwerster cerebraler Schäden zu keiner oder so gut wie keinen Sinneswahrnehmungen fähig ist, des Blindengeldes nicht bedürfe, weil behinderungsbedingte Mehraufwendungen ohnehin nicht ausgeglichen werden könnten, keinen solchen sachlichen Grund dar. Denn das Blindengeld wird derzeit ohne Rücksicht auf einen im Einzelfall nachzuweisenden oder nachweisbaren Bedarf pauschal gezahlt. Dabei ist gerade Sinn und Zweck der Pauschale, bei festgestellter Schädigung auf die Ermittlung des konkreten Mehrbedarfs sowie einer konkreten Ausgleichsfähigkeit zu verzichten.

Fundstelle: beck-online, FD-SozVR 2015, 371391

zahnärztliche Versorgung

Verbesserung der zahnärztlichen Versorgung von immobilen Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderungen

Nach Mitteilung des Bundesgesundheitsministeriums vom 26.03.2013 treten zum 01.04.2013 Neuregelungen in Kraft, die eine Verbesserung der zahnärztlichen Versorgung von Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderungen bewirken sollen. Eine angemessene und extrabudgetäre Honorierung soll Anreize bieten für eine Versorgung bei den Patienten zu Hause.

Mit einem entsprechenden Beschluss des Bewertungsausschusses vom 15.02.2013 setzen die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung und der GKV-Spitzenverband die Vorgaben des Gesetzgebers aus dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz um.  Hintergrund ist, dass es pflegebedürftigen und behinderten Menschen gesundheitsbedingt häufig nicht möglich ist, selbst die Praxis des Zahnarztes aufzusuchen. Diese so genannte „aufsuchende Versorgung“ wird deshalb angemessen extrabudgetär honoriert. Ob die Höhe tatsächlich angemessen ist, oder nur als „angemessen“ bezeichnet wird, wird die Praxis zeigen. Jedenfalls soll so eine Versorgungslücke bei immobilen Patientinnen und Patienten geschlossen werden.

Die Vertragszahnärzte erhalten zusätzlich zu den Besuchsgebühren und dem Wegegeld eine Vergütung für die Versorgung in häuslicher Umgebung oder in Einrichtungen. Diese zusätzliche Leistungsposition soll „dem erhöhten personellen, instrumentellen und zeitlichen Aufwand für die aufsuchende Betreuung Rechnung tragen.“

Mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz soll der anspruchsberechtigte Personenkreis auf Menschen mit Demenz und psychischen Erkrankungen erweitert werden. Diese Neuregelungen sollen nach den Angaben des Ministeriums mit Mehrkosten für die Gesetzliche Krankenversicherung in Höhe von jährlich ca. 20 Millionen Euro verbunden sein.

Behandlung und Körperverletzung

Behandlung ist Körperverletzung

Jeder Eingriff in den menschlichen Körper ist eine Körperverletzung. Dies gilt auch für ärztliche Eingriffe und Medikamentengaben. Aber nicht jede Körperverletzung ist eine rechtswidrige Köperverletzung. Daher bestimmt das Patientenrechtgesetz, dass der Behandelnde verpflichtet ist, dem Patienten in verständlicher Weise, zu Beginn der Behandlung und, soweit erforderlich, in deren Verlauf sämtliche für die Behandlung wesentlichen Umstände zu erläutern, insbesondere die Diagnose, die voraussichtliche gesundheitliche Entwicklung, die Therapie und die zur und nach der Therapie zu ergreifenden Maßnahmen.

Nur ein vollständig und richtig aufgeklärter Patient kann wirksam in die Behandlung einwilligen. Erst diese Einwilligung des Patienten nach erfolgter Aufklärung beseitigt die Rechtswidrigkeit des Eingriffs. Diese vom Gesetzgeber und von den Gerichten als notwendig angesehene Patienteninformation hat verschiedene Gründe. Einerseits hat der Patient das Selbstbestimmungsrecht über seinen Körper und kann selbst darüber entscheiden, ob er eine Behandlung an sich durchführen lässt oder lieber mit den Leiden und Verschlimmerungen lebt oder gar bei Nichtbehandlung dauernde Schäden oder den Tod in Kauf nimmt. Nur ein aufgeklärter Patient kann letztendlich mit eigenen Willen entscheiden, ob und welche Behandlung er an seinem Körper ausführen lässt.

Ein weiterer Grund für das Aufklärungserfordernis ist in der so genannten Sicherheitsaufklärung gelegen. Der Patient muss darüber aufgeklärt werden, wie er sich vor, während und nach der Behandlung verhalten muss. Erst dann kann er sein Verhalten danach einrichten, sich aktiv an der Behandlung zu beteiligen und Gefahren abwehren. Wer Risiken und Gefahren nicht kennt, kann auch nichts unternehmen, um diese zu vermeiden oder möglichst gering zu halten.

Bei Verletzung dieser nunmehr gesetzlichen Aufklärungspflichten kann sich der Behandler zivilrechtlichen Forderungen seines Patienten aussetzen oder gar mit strafrechtlichen Maßnahmen rechnen. Dies ist weder im Interesse des Behandlers, noch im Interesse des Patienten, welche beide zusammenwirken wollen und müssen, um möglichst einen Behandlungserfolg zu erzielen.

Einsicht in Pflegedokumentation

Einsicht in Pflegedokumentation

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit Urteil vom 26.02.2013 zum Aktenzeichen VI ZR 359/11 entschieden:

„1. Der Anspruch des Pflegeheimbewohners auf Einsicht in die Pflegeunterlagen geht gemäß § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X i.V.m. § 410 Abs. 1 BGB analog, § 412 BGB auf den – aufgrund des Schadensereignisses zu kongruenten Sozialleistungen verpflichteten – Sozialversicherungsträger über, wenn und soweit mit seiner Hilfe das Bestehen von Schadensersatzansprüchen geklärt werden soll und die den Altenpflegern obliegende Pflicht zur Verschwiegenheit einem Gläubigerwechsel nicht entgegensteht.

2. Die Pflicht zur Verschwiegenheit steht einem Gläubigerwechsel in der Regel nicht entgegen, wenn eine Einwilligung des Heimbewohners in die Einsichtnahme der über ihn geführten Pflegedokumentation durch den Sozialversicherungsträger vorliegt oder zumindest sein vermutetes Einverständnis anzunehmen ist, soweit einer ausdrücklichen Befreiung von der Schweigepflicht Hindernisse entgegenstehen.

3. Es wird regelmäßig davon auszugehen sein, dass die Offenlegung der Pflegedokumentation gegenüber dem Krankenversicherer dem mutmaßlichen Willen des verstorbenen Heimbewohners entspricht, wenn die Entbindung von der Schweigepflicht dem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen wegen der Verletzung von Betreuungspflichten des Altenpflegepersonals ermöglichen soll.“

Vorliegend hatte die Krankenkasse den beklagten Heimträger aus übergegangenem Recht einer bei ihr versicherten Heimbewohnerin auf Herausgabe der Kopien der Pflegedokumentation in Anspruch genommen, da sich die Versicherte bei einem Sturz in dem von der Beklagten betriebenen Pflegeheim erhebliche Verletzungen zuzog. Da die Krankenkasse die Behandlungskostengetragen hat, wollte sie auf sie übergegangene Schadensersatzansprüche prüfen.

Nach den Ausführungen des BGH steht dem Heimbewohner grundsätzlich ein Einsichtsrecht in die ihn betreffende Pflegedokumentation als Nebenanspruch aus dem Heimvertrag zu. Dieser Anspruch geht auf den Sozialversicherungsträger über, wenn und soweit mit seiner Hilfe das Bestehen von Schadensersatzansprüchen geklärt werden soll und die Altenpflegern obliegende Pflicht zur Verschwiegenheit einem Gläubigerwechsel nicht entgegensteht.