Schlagwortarchiv für: reformatio in peius

Neufeststellung des GdB und Bestimmung des Gesamt-GdB

Zur Neufeststellung des GdB (Grad der Behinderung) und zur Bestimmung des Gesamt-GdB (Gesamtgrad der Behinderung) wurde durch das Landessozialgericht Baden-Württemberg mit Urteil vom 13.01.2022 zum Aktenzeichen L 6 SB 639/21 vom 13.01.2022 klargestellt:

  1. Neufeststellung des GdB

Voraussetzung für eine Neufeststellung des GdB ist eine tatsächliche Änderung des Gesundheitszustandes gegenüber dem Zeitpunkt, zu dem der maßgebliche Vergleichsbescheid erlassen worden ist.

Erläuterung:

Der Vergleichsbescheid ist der letzte Bescheid über die Feststellung des GdB, welcher mit der Neufeststellung abgeändert werden soll. Sowohl der Schwerbehinderte, wie auch das Versorgungsamt können eine Neufeststellung anstreben, wenn sich eine tatsächliche Änderung des Gesundheitszustandes ergeben hat. Die Neufeststellung kann zu einer Erhöhung, aber auch zu einer Verringerung des bisherigen GdB führen.

2. Verbot der reformatio in peius

Im Rechtsmittelverfahren ist die teilweise Aufhebung eines rechtswidrig zu hoch festgestellten GdB wegen des Verbotes der reformatio in peius nicht zulässig.

Erläuterung:

Der Grundsatz des reformatio in peius wird aus dem Rechtsstaatsprinzip des Artikels 20 Absatz 3 Grundgesetz abgeleitet.

Der aus dem Latein stammende Ausdruck reformatio in peius bedeutet in der Rechtswissenschaft ein Verböserungsverbot. Damit ist gemeint, dass es im Verwaltungsrecht und im Sozialrecht unzulässig ist, einen Bescheid oder ein Urteil zulasten des Rechtsmittelführers zu verbösern. Die Entscheidung nach der Einlegung des Rechtsmittels (wie Widerspruch oder Berufung) darf mithin nicht belastender ausfallen, als die Ausgangsentscheidung war. Damit soll der Rechtsmittelführer (Widerspruchsführer, Kläger, Berufungskläger) nicht aus Angst vor einer Verböserung vom Rechtsmittel abgeschreckt werden.

Somit darf im Verwaltungsverfahren die Widerspruchsbehörde dem Widerspruch des Rechtsmittelführers abhelfen, wie auch zurückweisen, jedoch nicht mit einer zusätzlichen Beschwer verbösern. Das Gleiche gilt im Sozialgerichtsverfahren.

  1. Der Gesamt-GdB ist nicht an starre Beweisregeln gebunden

Der Gesamtbehinderungsgrad (Gesamt-GdB) ist nicht nach starren Beweisregeln zu bestimmen, sondern ist aufgrund der richterlichen Erfahrung, auch unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten, in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen.

Erläuterung:

Auf der ersten Prüfungsstufe ist durch das Gericht zu ermittelnden, ob nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen vorliegen und die sich hieraus abzuleitenden Teilhabebeeinträchtigungen sind ausschließlich auf der Grundlage ärztlichen Fachwissens festzustellen. Dabei dienen die ärztlichen Unterlagen und Sachverständigengutachten der richterlichen Wertung. Nicht der Sachverständige bestimmt den Grad der Behinderung, sondern das Gericht unter Nutzung des ärztlichen Sachverstandes, wie beispielsweise aus den Gutachten.

Auf der zweiten Prüfungsstufe ist durch das Gericht der jeweilige Einzelgrad der Behinderung (Einzel-GdB) für die jeweilige Teilhabebeeinträchtigung zu bestimmen, wie ein Einzel-GdB für die Wirbelsäulenerkrankungen, ein Einzel-GdB für die psychischen Erkrankungen usw.

Auf der dritten Prüfungsstufe ist durch das Gericht der Gesamt-GdB zu bestimmen. Hier sind entsprechend der Entscheidung des LSG über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus auch weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen. Diesbezüglich verweis das LSG auf den Beschluss des BSG (Bundessozialgericht) vom 09.12.2010 zum Aktenzeichen B 9 SB 35/10 B.

In dieser Entscheidung des BSG heißt es:

„Bei der Bemessung der Einzel-GdB und des Gesamt-GdB kommt es indessen nach § 69 SGB IX maßgebend auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft an. Bei diesem zweiten und dritten Verfahrensschritt hat das Tatsachengericht über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen. Diese Umstände sind in die als sog antizipierte Sachverständigengutachten anzusehenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) einbezogen worden. Dementsprechend sind die AHP nach der ständigen Rechtsprechung des BSG im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu beachten (s BSG SozR 4-3250 § 69 Nr. 9 RdNr. 25 m. w. N.). Für die seit dem 1.1.2009 geltende Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zur Versorgungsmedizin-Verordnung gilt das Gleiche.“

  1. Nur der Gesamt-GdB wird rechtverbindlich entschieden

Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB.

Erläuterung:

Nur was im Verfügungssatz des Bescheides, des Widerspruchsbescheides, bzw. des Urteils steht, stellt die rechtsverbindliche Entscheidung dar. Jedoch dienen dieser rechtsverbindlichen Entscheidung zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die hieraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen, wie auch deren Auswirkungen lediglich der Begründung des Bescheides, bzw. der Urteilsbegründung. Sie stellen für sich keine eigene rechtsverbindliche Feststellung eines Teil-GdB dar. Es wird beispielsweise nicht ein Teil-GdB für die Wirbelsäulenerkrankung und ein Teil-GdB für psychischen Erkrankungen festgestellt, sondern ein Gesamt-GdB, ohne im Verfügungssatz eine Erkrankung zu benennen.